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Lebensbedrohliches Ritual

08.11.18200 Millionen Frauen weltweit sind von weiblicher Genitalverstümmelung (female genital mutilation, kurz FGM) betroffen, etwa drei Millionen sind jährlich davon bedroht. In Deutschland leben etwa 50.000 betroffene Frauen – bei 9.000 weiteren besteht die Gefahr der Verstümmelung. Wie Ärztinnen und Ärzte mit von FGM betroffenen Frauen umgehen und was sie für sie tun können, war Thema einer gut besuchten Veranstaltung der Ärztekammer.

Mathias von Rotenhan, Facharzt für Gynäkologie, gab zunächst einen Überblick. Die Tradition habe sich vor mehr als 2.000 Jahren von Ägypten aus in Afrika verbreitet, und ist erst später religiös instrumentalisiert worden. „Der soziale und gesellschaftliche Druck in vielen afrikanischen Ländern ist hoch, denn nur beschnittene Frauen sind ein vollwertiger Teil der Gesellschaft und damit wert, geheiratet zu werden “, sagte von Rotenhan. „Die Menschen glauben fest daran, dass es gut ist.“ Besonders weit verbreitet sei FGM in Ägypten, Somalia, Sudan, Mail, Guinea oder Djibouti. „Wenn Sie eine Patientin aus einem dieser Länder vor sich haben, können Sie fast sicher davon ausgehen, dass sie beschnitten wurde“, sagte von Rotenhan.

Die Mortalität direkt nach einer FGM liege schätzungsweise bei fünf bis zehn Prozent, so von Rotenhan. Auch treten erhebliche Langzeitfolgen auf: Viele Betroffene leiden unter chronischen Schmerzen, haben Harnwegsprobleme und Infektionen sowie sexuelle Probleme. Auch geburtshilfliche Probleme treten auf. „Um einen möglichst komplikationsfreie Geburt zu erreichen, ist es ist bei schwangeren Frauen etwa in der 20. Woche möglich, den Zustand vor der Beschneidung operativ wieder herzustellen“, sagte von Rotenhan. „Das geht nur mit psychologischer Unterstützung: Da viele Mädchen schon im Kindesalter beschnitten wurden, kennen sie den normalen Zustand gar nicht.“ Für den Umgang mit betroffenen Frauen empfahl Mathias von Rotenhan gleichermaßen Mut und Zurückhaltung. „Denken Sie dran, es anzusprechen und sprechen Sie es auch an“, sagte er. „Aber unterlassen Sie Mitleid, Entsetzen, Verachtung oder Wertungen – Sie werden so nur erreichen, dass die Patientin niemals wiederkommt.“

Im Anschluss stellte Dr. Kerstin Porrath, Fachärztin für Kinderheilkunde und Jugendmedizin und Leiterin der Kinderschutzgruppe am Klinikum Links der Weser, mögliche präventive Maßnahmen zur Diskussion. Zur Risikogruppe gehören junge Mädchen, die bereits von FGM betroffen seien, neugeborene Töchter betroffener Frauen sowie Mädchen, die ihr Heimatland besuchen wollen oder müssen. Porrath brachte die Idee ins Spiel, alle minderjährigen Mädchen regelmäßig zu einer Reihenuntersuchung oder alle neuzugewanderten Frauen und Mädchen obligatorisch zu einer Untersuchung einzubestellen. Auch eine gesetzliche Meldepflicht im Fall bereits verübter oder bei Kenntnis bevorstehender Verstümmelung sei denkbar. Porrath sei oft mit Lifestyle-Fragen junger Mädchen konfrontiert, die wissen wollten, ob sie „normal“ seien. „Im Rahmen dieser Fragen kann man auch die vielleicht drohende Genitalverstümmelung thematisieren und sie so möglicherweise verhindern“, sagte Porrath.

Von rechtlicher Seite näherte sich Claus Pfisterer dem Thema. „Weibliche Genitalverstümmelung ist in Deutschland ein Verbrechen und kann mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden“, sagte er. § 226a des Strafgesetzbuches (StGB) regele zudem, dass auch „Ferienbeschneidungen“ im Herkunftsland in Deutschland strafrechtlich verfolgt werden könnten. Willige eine volljährige Frau in eine Beschneidung ein, könne das in Deutschland durchaus Geltung haben und müsse im Einzelfall auf Sittenwidrigkeit geprüft werden. „Bei Minderjährigen ist die Einwilligung von seltenen Ausnahmen abgesehen unwirksam“, sagte Pfisterer. „Die Einwilligung der Eltern gilt niemals, da sie sorgerechtswidrig ist.“

Wenn Ärztinnen und Ärzte bei Erwachsenen von einer drohenden oder erfolgten FGM Kenntnis erlangen, gelte die Schweigepflicht, sagte Pfisterer. „Droht einer Minderjährigen eine Verstümmelung, dürfen Ärzte und Ärztinnen diese Gefahr offenbaren und das Jugendamt einschalten“, sagte er. Bei einer bereits erfolgten Verstümmelung gelte aber auch bei Minderjährigen die Schweigepflicht, solange ihr Wohl nicht erneut in Gefahr sei. In diesem Fall müssten Ärztinnen und Ärzte auf die Inanspruchnahme von Hilfe hinwirken. Pfisterer: „Das Wohl des Kindes darf aber natürlich nicht durch die Intervention des Arztes gefährdet werden.“

Eine intensive Diskussion möglicher präventiver Maßnahmen schloss sich an. Diskutiert wurde zum Beispiel die Idee, ob man im Kinderuntersuchungsheft ein festes Feld einfüge, in das man codiert die Verstümmelung der Mutter eintragen kann, so dass Pädiater präventiv gegen eine Verstümmelung der Tochter wirken können. Dem gegenüber stehe aber die Gefahr der Stigmatisierung von Mutter und Kind.

 


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