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Die Pandemie ist auch eine soziale Krise

01.02.21Die Impfstrategie der Europäischen Union war Thema einer hochkarätig besetzten Onlineveranstaltung des EuropaPunktBremen Ende Januar. Dr. Jörg Wojahn, Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Berlin, Professorin Dr. Christiane Woopen, Vorsitzende des Europäischen Rates für Wissenschaft und neue Technologien, Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Bremer Bundestagsabgeordnete und Obfrau von Bündnis 90/Die Grünen im Gesundheitsausschuss, sowie Dirk Heimsoth-Ranft, Infektiologe bei der Senatorin für Gesundheit, Frauen und Verbraucherschutz, diskutierten über die Europäische Impfstrategie und ihre Auswirkungen auf die praktische Arbeit in Bremen.

Ziel der europäischen Impfstrategie sei, dass ganz Europa Zugang zu sicheren Impfstoffen habe, erläuterte zu Beginn Jörg Wojahn. Die EU-Kommission helfe den EU-Ländern bei der Ausarbeitung ihrer jeweiligen Impfkampagne und gebe Empfehlungen, wer als erstes geimpft werden sollte, wie eine gerechte Verteilung erreicht werden kann und wie die Schwächsten geschützt werden können. Die Empfehlungen der EU seien nicht bindend, alle Mitgliedsstaaten hätten ihre eigene Entscheidungsgewalt, wie sie bei den Impfungen vorgehen, so Jörg Wojahn.

Alle Mitgliedstaaten erhalten eine Impfstoffmenge, die von der Bevölkerungsgröße abhängt. „Idealer wäre wahrscheinlich, Faktoren wie Alter, Gesundheitszustand der Bevölkerung oder Bedürftigkeit noch mehr Bedeutung zuzumessen. Allerdings müssten sich dann alle Staaten einig sein, welche Faktoren wie einberechnet werden“, sagte Jörg Wojahn. „Die Verteilung nach Bevölkerungsgröße ist die politisch-pragmatische Lösung.“

Globale Impfstrategie sinnvoll

Für Christiane Woopen wäre eine international einheitliche Impfstrategie wünschenswert, die global alle Länder berücksichtigt. Die EU sollte bei der Entwicklung einer globalen Strategie eine zentrale Rolle einnehmen. Sie plädierte für eine sozial gerechte Verteilung des Impfstoffs. „Dass die reichen Länder gnädig die übriggebliebenen Impfdosen an ärmere Länder abgeben, widerstrebt mir zutiefst“, sagte Woopen. „Wie dringend ein Land im Hinblick auf gesundheitliche, soziale und wirtschaftliche Schäden des Impfstoffs bedarf, wird nicht durch seine Bevölkerungszahl bestimmt.“

Drei Verteilungskriterien sollten Grundlage einer nationalen Impfstrategie sein: das Risiko für einen schweren oder tödlichen Verlauf der Erkrankung und das Risiko, angesteckt zu werden oder viele Menschen anzustecken. Drittens müsse aber auch die soziale Perspektive eingenommen werden. Woopen: „Menschen, die ohnehin schon benachteiligt sind, werden durch die Pandemie oft zusätzlich belastet: sei es die Sorge um den Arbeitsplatz, seien es schlechtere Bildungschancen durch Schulausfall, häusliche Gewalt oder psychische Krankheiten.“ Deshalb müsse auch soziale Ungleichheit eine Rolle bei der Verteilung von Impfstoffen spielen.

Kirsten Kappert-Gonther stimmte Christiane Woopen weitgehend zu. „Die Corona-Pandemie ist weltweit auch eine soziale Krise“, sagte sie. „Momentan sei die Haltung verbreitet: Erst einmal werden wir geimpft, und wenn dann noch etwas übrig ist, kommen die anderen dran.“ Sie schlug vor, die Priorisierung nicht grundsätzlich aufzulösen, sondern zuerst zu schauen, wer in den Priorisierungsgruppen unter 65 sei und eine vorgezogene Impfung bekommen solle. Die Corona-Krise müsse global und gerecht bekämpft werden und der Impfstoff allen gleichermaßen zur Verfügung stehen. Sie schlug vor, Abmahnregeln festzulegen, um die Hersteller mehr unter Druck zu setzen, die Produktion hochzufahren. „Wenn dies nicht wirkt, wäre dann der nächste Schritt, die Lizenzen für weitere Hersteller freizugeben“, so Kappert-Gonther.

Dirk Heimsoth-Ranft zog derweil eine positive Zwischenbilanz für Bremen. „Ab Mitte Dezember war Bremen mit dem Impfzentrum startklar und seit dem Impfstart läuft es wirklich gut“, sagte er. „Jetzt sind wir dabei, Feinheiten zu justieren, damit wir noch besser werden.“ Eine neue Stellschraube sei zum Beispiel die Impfkommission, die darüber entscheidet, ob Menschen mit besonderen Risiken, die nicht innerhalb der ersten Priorisierungsgruppensind, geimpft werden können. Heimsoth-Ranft: „Eine komplette einhundertprozentige Abdeckung bis in jede Kleinstgruppe kann die Kommission aber nicht gewährleisten.“

Nicht allein aufs Impfen setzen

Christiane Woopen warnte, dass man nicht allein auf die vorhandenen Impfstoffe und die Impfungen selbst als Lösung der Corona-Krise setzen solle. „Wenn eine Mutation auftaucht, bei der die Impfung nicht wirkt, geht alles wieder auf Null“, sagte sie. „Dieses Szenario wird oft nicht bedacht.“ Je ansteckender die Mutation sei, desto höher müsse auch die Herdenimmunität sein. Darum müsse viel mehr Augenmerk auf die Teststrategie gelegt werden. Woopen: „Hier wird politisch-strategisch viel zu wenig investiert. Dabei könnte eine wirksame Teststrategie unser Schutzschirm sein.“

Auch Kirsten Kappert-Gonther betonte, dass die Impfstrategie nur eine Säule im Kampf gegen Corona sein kann. „Wir können die Krise nur global und gemeinsam in den Griff bekommen“, sagte sie. „Für Nationalismus sollte dabei kein Platz sein.“ Sie nannte drei zentrale Punkte zur Bekämpfung der Pandemie: „Wir müssen Minderheiten und sozial Schwache schützen, die Gesundheitsunion in der EU stärken, und wir dürfen die Bekämpfung der Pandemie nicht an den EU-Außengrenzen stoppen.“


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